We Need a Hero - But it Won't be a Nerd
Manfred hat mich auf Twitter mit den Worten Unser Überleben liegt in Händen wie etwa jenen von @leyrer
.
quasi „gezwungen”, das Machwerk „RCE” von Sibylle Berg zu lesen. Das hat von Juni bis September gedauert. Wer mich kennt weiß, wie ungewöhnlich das ist. Normalerweise brauch ich für einen Roman ein paar Tage, für einen China Miéville etwas länger, bei Gibson und Stephenson lass ich mir bewusst Zeit. Mit diesem „Buch” hab ich auf mehreren Ebenen gekämpft. Zur technischen schreib ich noch was extra, hier konzentriere ich mich mal auf den Inhalt.
Im Gegensatz zu Manfred kann ich nicht Žižek zitieren – die Philosophie hab ich meinem Bruder überlassen – aber dafür bring ich meine zynische Gen-X Nerd Sichtweise ein. Mal schaun, ob die für Euch auch interessant ist.
Fr. Berg skizziert in ihrem Text ein Europa, wie es nie sein wird. In weiten Strecken ist ihr Text für jemanden, der ein wenig Tages- und Netzpolitik verfolgt, Wiederholung. Snowden, Cum-Ex, Wirecard, Überwachungsstaat und Co. werden seitenlang in einem für mich sehr herablassenden wirkenden Ton aufgewärmt. Aus meiner Sicht auch für jemanden, der darüber in dem Buch zum ersten Mal liest, in keinster Weise packend formuliert. Daraus extrapoliert und/oder ein paar fiktionelle Skandale noch dazu erfunden hat Fr. Berg leider nicht. Palantir Mitgründer Peter Thiel wird von ihr namentlich mehrfach erwähnt, aber Elon Musk traut sie sich dann nicht zu nennen – der wird nur umschrieben. Wenn das alles Intention war, bin ich wohl zu blöd, es zu verstehen. Ansonsten kann ich hier nur ein sehr schlechtes Lektorat vermuten.
Neben dem für mich sehr mühsamen Schreibstil – YYMV, ev. bin ich einfach nur englischsprachige Literatur mehr gewohnt – haben mich am meisten die „Profile” der Akteure, die jeden Szenenwechsel einleiteten irritiert. Mir ist bis zum Ende des Buches nicht klar geworden, was Fr. Berg versucht hat, damit zu erreichen. Die waren nicht lustig, haben die Story nicht vorrangebracht, waren zu flapsig geschrieben, um als „echte” Kurzdossiers durchzugehen, … Die haben für mich einfach keinen Sinn ergeben.
Was sich mit aber überhaupt nicht erschlossen hat, war Ihre Charakterisierung der „Nerds”, der „Helden” des Romans. Hier pendelt sie für mich zwischen realistisch wirkenden Einzelheiten, die andeuten, dass sie eine Ahnung von „den Nerds” (die es als „einen Begriff” so ja gar nicht gibt) da draußen – beispielsweise aus dem CCC, Hackerspace oder B-Sides Umfeld – hat und den üblichen Vorurteilen, Stereotypen und Klischebildern wie dem sozial unbeholfenen Nerd, die der Großteil der Bevölkerung mit dem Begriff „Nerd” verbindet.
Diese für mich überhaupt nicht gelungene Mischkulanz aus Vorurteilen und realistischen Beschreibungen hat die Lektüre für mich sehr schwer gemacht, weil es für mich vorne und hinten nicht zusammengepasst hat.
[SPOILER ALERT]
Und die so genannten „Erlöser” in ihrem Buch, diese Gruppe von „körperentfremdeten [sic.] Jugendlichen”, wie sie Manfred anhand eines im Buch verwendeten Klischees zusammenfasst. Ich mein, seriöslich?
In dem Roman werden Nerds/Hacker skizziert, die, um eine Revolution anzuzetteln, Gesetze brechen, Verbrechen begehen und Menschen auf eine Art und Weise manipulieren, dass Göbbels vor Neid rot anlaufen würde. Die einzigen Nerds, die ich kenne und die so denken (würden), sind diejenigen, die sich dann beispielsweise im Rahmen einer CyberSecurityChallenge von Heer, Geheimdienst, Polizei, NSA, etc, abwerben lassen. Der „Rest”, der über die Fähigkeiten, etc. verfügen würde, ist sich der Kraft und Gefährlichkeit dieser Fähigkeiten so bewusst, dass sie diese nicht einsetzen¹.
Die Nerds, die ich kenne, wollen, wie es Fr. Berg auch zu Beginn ihres Buches beschreibt, Aufklären und eine Verbesserung auf demokratische Weise herbeiführen. Eine durch Manipulation von Personen initiierte Revolution? Käme ihnen doch nicht mal in den Sinn. Mir hat nach der Lektüre der Kopf weh getan, so heftig musste ich den immer wieder schütteln.
Und natürlich sind die Nerds in der Geschichte technisch so sophisticated, dass sie ALLES hacken können. Sonst würde ja die ganze Geschichte nicht funktionieren. Es war einfach nur lachhaft.
Und dann gibt es ja auch noch die nicht gerade kleine Gruppe der „Technik ist nicht politisch” Gruppe, die abnerden, code und basteln wollen, aber von Politik, Netzpolitik oder gar Parteipolitik gar nicht wissen wollen. Diese Gruppe, die auch über „dual use” oder ethisch-moralische Überlegungen wie „sollte ich das jetzt bauen, wem würde ich damit schaden” gar nicht nachdenken wollen, würden so ein Unterfangen von Anbeginn an torpedieren. Und sind gleichzeitig an der Entwicklung beispielsweise des Überwachungsstaates mit Schuld.
„Die Nerds” werden uns sicher nicht retten. Genausowenig, wie die „Digital Natives” die Manfred ins Spiel bringt und die Fr. Berg überraschend (das war wieder so ein „sie weiß doch, wovon sie schreibt” Moment) aber korrekt als irrelevant abtut, weil das Alter einer Person einfach nichts über deren „digitale Kompetenz” aussagt.
Und für mich ist dieser Blick nach Helden, ob es nun Neo oder eine Gruppe von „körperentfremdeten Jugendlichen” ist, im besten Fall die intellektuelle Variante des Rufs nach einem starken Mann. Meine sehr bescheidenen Meinung nach wird es nur zu einer Veränderung zum Positiven kommen, wenn wir uns alle ein Cape umbinden. Verbleiben wir im digitalen Biedermayer, in dem wir uns auch in den letzten 1,5 Jahren verkrochen haben, werden die von William Gibson in den 1980er skizzierten Dystopien noch realer und die beispielsweise aus Wall-E immer plausibler.
Ich kann RCE - Remote Code Execution von Sibylle Berg in keinster Weise empfehlen. Cory Doctorow hat hier beispielsweise mit seiner Young Adult Romanserie „Little Brother” deutlich mehr und Interessanteres zu bieten.
¹ … Ja, ich vereinfache hier auch und greife in die Kischeeschublade, aber ich will ja auch heute noch fertig werden. Und ja, in den Reihen der Nerds finden sich auch Anarchisten, Libertäre und beispielsweise Waffenfans. Aber das von Fr. Berg skizzierte Bild ist einfach abstrus.
Tagged as: | Author: Martin Leyrer
[Donnerstag, 20220922, 22:35 | permanent link | 0 Kommentar(e)