Nasenbohrertest vs. Lochkarte

Lochkarte
Aus: „IBM Functional Wiring Principles”, 1960

Das da oben ist eine Lochkarte von ~1960. Die hat etwas mit Covid-19, den Nasenbohrer-Tests, ELGA und ÖVP, SPÖ und den Grünen zu tun und warum 300.000 Personen keine medizinische Versorgung vom österreichischen Staat bekommen.

 


 

Am 2021-02-24 hat der österreichische Nationalrat mit den Stimmen von ÖVP, SPÖ und Grünen den Antrag 1215/A XXVII. GP verabschiedet, der von Gabriela Schwarz (ÖVP) und Ralph Schallmeiner (Grüne) eingebracht wurde. In diesem Antrag wurde unter anderem beschlossen, dass …

… SARS-CoV-2-Antigentests zur Eigenanwendung an die bezugsberechtigten Personen (dies sind die nach den Bundesgesetzen krankenversicherten Personen und ihre anspruchsberechtigten Angehörigen, sofern diese vor dem 1. Jänner 2006 geboren wurden) abgegeben werden, wobei pro Monat jeweils eine Packung zu fünf Stück auf Rechnung des Krankenversicherungsträgers abgegeben werden darf.

Ebenfalls am 2021-02-24 hat der österreichsche Nationalrat, ebenfalls mit dem Stimmen von ÖVP, SPÖ und Grünen, den Antrag 1263/A XXVII. GP beschlossen, der von Dr. Josef Smolle (ÖVP) und Ralph Schallmeiner (Grüne) eingebracht wurde.
Über diesen Antrag wurde durch die verabschiedenden Abgeordneten ganz bewusst Gesundheitstelematikgesetz 2012, § 16. (3) ausgehebelt. Dort heißt es nämlich:

Personen, die der Teilnahme an ELGA gemäß § 15 Abs. 2 widersprechen dürfen dadurch weder im Zugang zur medizinischen Versorgung noch hinsichtlich der Kostentragung Nachteile erleiden.

Und wie die Futurezone ja auch schon berichtet hat, sind ELGA Opt-OuterInnen von der Abgabe der „SARS-CoV-2-Antigentests zur Eigenanwendung” (vulgo „Nasenbohrertests”) ausgenommen, erleiden also „Nachteile hinsichtlich der medizinischen Versorgung und/oder Kostentragung”. Auf Twitter hat mich das länger beschäftigt, bis mich @sqrt2 auf den unscheinbaren Punkt 6 des „672 der Beilagen XXVII. GP - Ausschussbericht NR - Gesetzestext” verwiesen hat:

(6) § 16 Abs. 3 in Verbindung mit § 25 ist im Rahmen dieser Bestimmung nicht anzuwenden.

Oder, „etwas” verständlicher, aus dem Protokoll des Gesundheitsausschusses:

Obwohl alle diese Personen bezugsberechtigt sind, ist eine Abgabe nur an jene Personen möglich, die der Teilnahme an der eMedikation oder an ELGA generell nicht widersprochen haben (ELGA-Teilnehmer/innen im Sinne des § 15 Abs. 1): Der Dachverband speichert die Verordnung in der eMedikation aller bezugsberechtigten Personen, jedoch wird diese gespeicherte Verordnung nur in der eMedikation der ELGA-Teilnehmer/innen angezeigt. Dies entspricht nicht nur dem geltenden Regelungsregime des 4. Abschnitts, wodurch insbesondere dem informationellen Selbstbestimmungsrecht im Rahmen von ELGA Rechnung getragen wird, sondern ließe es sich technisch auch nicht anders umsetzen.
 
Da das Vorhandensein einer Verordnung Voraussetzung für die Abgabe der SARS-CoV-2-Antigentests zur Eigenanwendung ist, ist eine Abgabe an alle Personen, die der Teilnahme an der eMedikation oder an ELGA generell widersprochen haben, nicht möglich. Die damit einhergehende Benachteiligung in der Kostentragung von jenen Personen, die zwar gemäß § 742b Abs. 2 ASVG bezugsberechtigt sind, aber der Teilnahme an ELGA widersprochen haben, soll entgegen § 16 Abs. 3 in Verbindung mit § 25 keine Verwaltungsübertretung darstellen.

Sprich: ÖVP, SPÖ und Grüne haben hier BürgerInnenrechte eingeschränkt, weil es ließe sich technisch auch nicht anders umsetzen !!!!

Obwohl diese Chutzpe, sich einfach aus einem der wichtigsten Paragraphen im ELGA Umfeld heraus zu reklamieren, weil es technisch nicht anders umsetzbar wäre, meinen Blutdruck in ungesunde Höhen gebracht hat, wollte ich dann doch noch herausfinden, WAS denn da technisch nicht anders umsetzbar wäre. Und fündig bin ich natürlich beim lieben Geld geworden.

So heißt es aus dem Gesundheitsausschuss zum Antrag 1263:

SARS-CoV-2-Antigentests zur Eigenanwendung gelten als Medikationsdaten und werden als diese in der eMedikation gespeichert: Der für das Gesundheitswesen zuständige Bundesminister gilt für diesen Zweck als ELGA-Gesundheitsdiensteanbieter; der Dachverband hat als Auftragsverarbeiter (Art. 4 Z 8 DSGVO) Verordnungen für SARS-CoV-2-Antigentests zur Eigenanwendung für alle bezugsberechtigten Personen zentral in der eMedikation zu speichern.

Öffentliche Apotheken dürfen die Verordnungen verarbeiten, um die SARS-CoV-2-Antigentests zur Eigenanwendung kostenlos an die ELGA-Teilnehmer/innen abzugeben.

Und in dem zuvor erwähnten Antrag 1215 wurde ja das „Allgemeine Sozialversicherungsgesetz – ASVG” wie folgt geändert:

§ 742b. (1) Die öffentlichen Apotheken sind für die Dauer der durch die WHO ausgerufenen COVID-19-Pandemie berechtigt, auf Rechnung des Krankenversicherungsträgers SARS-CoV-2-Antigentests zur Eigenanwendung an bezugsberechtigte Personen abzugeben.

(3) Der Krankenversicherungsträger hat pro abgegebener Packung ein pauschales Honorar in Höhe von zehn Euro zu bezahlen. Zuzahlungen der bezugsberechtigten Personen sind unzulässig. Der Bund hat dem Krankenversicherungsträger die daraus resultierenden Aufwendungen aus dem COVID-19-Krisenbewältigungsfonds zu ersetzen.

Ergo, die Verordnungen für die Nasenbohrertests müssen in der ELGA e-medikation gespeichert werden, damit die Apotheken diese bei den Krankenversicherungsträgern für zehn Euro pro Nase pro Monat abrechnen können. Wie erwartet wurden hier persönliche Rechte dem schnöden Mammon geopfert.

Damit war meine Neugierde geweckt. Was ist hier technisch so komplex, so unveränderbar schwierig umgesetzt, soooo technisch einzigartig, perfekt und in Stein gemeisselt umgesetzt, dass ÖVP, SPÖ und Grüne eine Ausnahme zu einem Gesetz beschließen, sich selbst quasi ins Leo stellen, um damit über 300.000 ÖsterreicherInnen bewusst benachteiligen bzw. ev. sogar gesundheitlich zu gefährden?

Nun ja, gemäß § 348g ASVG zur „Elektronischen Abrechnung” sind die Grundsätze zur elektronischen Abrechnung im Internet [sic!] kundzumachen. Und dort, genauer gesagt im World Wide Web (WWW), oder noch genauer gesagt auf der Homepage der Sozialversicherung, wurde ich dann unter dem Stichwort „EDV-Abrechnung Apotheker” fündig. Hier findet sich die Organisationsbeschreibung DOA (Datenaustausch mit Öffentlichen Apotheken) V1.9 Stand 05.09.2019 (284.7 KB) (PDF).

Und dieses Dokument ist eine Schatzkiste für IT, pardon, ADV-HistorikerInnen und FreundInnen der österreichischen Beamtensprache!!!

Für Datenfelder, die Adressen und Namen beinhalten, dürfen keine diakritischen Zeichen verwendet werden.

Keine Umlaute. In Österreich. 2021 (die erste Version ist von 2005, also auch keine Ausrede)! Miroslav Šedivý ist empört! ;)

Was mich da fast noch mehr stört ist, dass sie kein Encoding angeben. Es wäre also vollkommen OK, Daten beispielsweise im EBCDIC-Encoding (ohne Umlaute) zu schicken. Also wenn mensch böse wäre …

Öffentliche Apotheken übermitteln nicht direkt an die SV-Träger, sondern deren elektronische Abrechnungen werden durch die Pharmazeutische Gehaltskasse gesammelt und in Sammelbeständen an die Datendrehscheibe des Hauptverbandes per Datenfernübertragung weitergeleitet.

DFÜ - Datenfernübertragung. Den Begriff hab ich seit den 1990ern nur noch in alten Büchern und Dokus gehört! Als würde sich ein Modem in der pharmazeutischen Gehaltskasse beim Hauptverband einwählen. Und Datendrehscheibe weckt natürlich auch Assoziationen. :D

Alle sozialversicherten Personen haben ihre eigene eindeutige Sozialversicherungsnummer.

Der Stoff, aus dem IT-Albträume sind. Aber wenn Du daran glauben solltest, hätte ich eine Brücke, die ich Dir gerne verkaufen würde.

Die Sozialversicherungsnummern werden in einem zentralen Verzeichnis (Kataster) beim Hauptverband verwaltet und von allen österreichischen Sozialversicherungsträgern (Kranken-, Pensions- und Unfallversicherung) und von der Arbeitsmarktverwaltung verwendet.

Österreichischer wirds nicht mehr …

 

Aber zurück zum Thema. Was ist nun mit dem Grund, mit diesem unabänderlichen, extrem komplexen IT-Sachverhalt, aufgrund dessen ÖVP, SPÖ und Grüne gezwungen waren, über 300.000 BürgerInnen von dem Bezug einer medizinischen Sachleistung auszuschließen?
Zur Erinnerung. In der Organsiationsbeschreibung zum Datenaustausch mit Apotheken heißt es:

Öffentliche Apotheken übermitteln nicht direkt an die SV-Träger, sondern deren elektronische Abrechnungen werden durch die Pharmazeutische Gehaltskasse gesammelt und in Sammelbeständen an die Datendrehscheibe des Hauptverbandes per Datenfernübertragung weitergeleitet.

Die Pharmazeutische Gehaltskasse sammelt also die Rechungen – u.a. für Nasenbohrertests – der einzelnen Apotheken und übermittelt sie dann gesammelt monatlich an den Hauptverband zur Abrechnung. Wie so eine Sammelmeldung auszusehen hat, wird in dem DOA Dokument ausführlich erklärt.
Auf Seite Seite 44 „F.3. SART72 Rezeptdaten” der Organisationsbeschreibung findet sich ein grausliches Detail zu diesem monatlichen Datenaustausch. Im Feld Nummer sechs wird die Satznummer „SATNR” als fünfstellige „Nummer” (nein, kein Integer oder so) mit Vornull definiert:

  Lf. Nr.  Feldname   Stelle von        bis  Anzahl   Feldinhalt                                              
...
     6     SATNR              16         20    5n     Satznummer
                                                      Rechtsbündig mit Vornull, aufsteigend beginnend

JA, IHR LEST RICHTIG !!!

Die ausgestellten Rezepte (pro Rezept ein „SART 72” Datensatz gemäß „E.3.1. Datenbestand – ÖAPO”, Seite 38 im DAO) werden pro Monat durchgezählt. In einem Feld das, wenn ich das PDF korrekt interpretiere, pro Monat die Datensätze für die Übertragung zum Hauptverband bei Null zu zählen beginnt und bis 99.999 zählen kann. Weil es kann bei 8,7 Millionen Versicherten und 1.396 öffentliche Apotheken NIE dazu kommen, dass pro Monat mehr als 99.999 Rechnungen ausgestellt werden. Schon gar nicht, bei fünf kostenlosen Covid-19 Selbsttests pro Person und Monat.

Und die Datensätze müssen mit DOS Zeilenende-Zeichen1 (cr/lf) abgeschlossen werden. Aber nein, nicht CSV, wie ihr ev. glauben möchtet. Auch kein XML, Json oder JSONx. DATENSÄTZE MIT FESTER BREITE !!!! Die SATNR wird in Spalte 16 bis 20 abgelegt.

Und damit sind wir bei der Beantwortung unserer Ausgangsfrage angelangt. Der Grund dafür, dass 300.000 BürgerInnen vom Staat ein „kostenfreies” Medizinprodukt vorenthalten wurde liegt daran, dass dessen Abrechnung nur über eine Datenschnittstelle funktioniert, deren Format auf den dem Format der Lochkarten aus dem Ende des 19ten Jahrhunderts basieren (Vergleiche die SART72 Definition mit dem Bild der Lochkarte von oben).

„Wenn sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben sie einen scheiß digitalen Prozess,” sagte mal Thorsten Dirks, CEO der Telefónica Deutschland AG. Und das gilt halt auch hier. Wer seine IT seit den 1960ern nicht modernisiert, muss steuerzahlende BürgerINnen und Bürger um Lestungen bringen und Gesetze ändern um nicht strafbar zu werden, weil es ließe sich technisch auch nicht anders umsetzen.

 

P.S.: Wer mir wirklich leid tut, sind jetzt die ganzen ITlerInnen im Umfeld der pharmazeutischen Gehaltskasse, die diese „technisch nicht anders umsetzbare” Katastrophe nun doch irgendwie, mit Hängen, Würgen und grauslichen Workarounds technisch umsetzen müssen, damit BürgerInnen ihre Tests und ApothekerInnen ihr Geld bekommen können.

 

Weitere Lektüre:

Corona-Selbsttest: Kritik an Ausschluss von ELGA-Aussteigern
Keine Gratis-Antigen-Tests: Musterklage für ELGA-Verweigerer

 

1 Eigentlich ja ein „Zeilenumbruch” und nicht ein „Zeilenende”, weil das wäre ja ein LF (LineFeed) alleine schon.

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[Dienstag, 20210316, 23:03 | permanent link | 0 Kommentar(e)

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